„Kaliningrad – die Bewohner, Einwanderer sind Auswanderer“
Nach der Betreuung ihrer zwei Kinder hat die 1934 in Insterburg geborene approbierte Pharmazeutin seit spätestens 1980 intensiv künstlerische Konzepte entwickelt, mit denen eine bessere Wahrnehmung von bisher vernachlässigten oder verdrängten sozialen, historischen oder missachteten Phänomenen möglich wurde. Zur Erscheinung kommen die künstlerischen Projekte an besonders ausgesuchten Orten, die sich von zwei Seiten charakterisieren lassen: Einerseits sind es Bauten mit historischen Imprägnierungen wie die frühere Synagoge in Rendsburg, das Gebäude des Schleswig-Holsteinischen Landtags, 1888 als Kaiserliche Marineakademie gebaut mit Architekturdetails aus der Zeit zwischen 1930 und 1960, die ehemalige NAPOLA-Schule in Plön, der chinesische Pavillon im Pillnitzer Schlosspark, ein berühmtes Tangotanzlokal im Hafen von Kotka (Finnland) oder das Stadttheater in Lübeck. Andererseits sind es eher neutrale, beinahe beiläufige Orte wie Treppenabsätze, Vorräume oder Kellergewölbe, auf oder in denen Gudrun Wassermann ihre poetischen Inszenierungen realisiert. Geschichtliches und Persönliches durchdringen sich in jeder Arbeit. Mumifizierte Katzen aus dem Alten Ägypten, Geräusche von Pferderennen aus Neuseeland, DRK-Suchmeldungen vor einem Gartenhäuschen in West-Berlin und Projektionen eines Sacred Bundle der Pawnee-Indianer deuten das enorm breite Spektrum des Arbeitsfeldes an, in dem sich die Künstlerin seit dreißig Jahren mit größter Intensität bewegt.
Ferne und Nähe sind ebenso wie Himmel und Erde konstitutive Elemente einer künstlerischen Arbeitsweise, die sich ein Bild zu machen versucht von einer menschlichen Erfahrung, die ganz wesentlich in der Vergegenwärtigung von etwas liegt, das eigentlich völlig unvereinbar ist: Geschichte als vergangene und erinnerte und Gegenwart als hellwache Unmittelbarkeit.
Ferne und Nähe sind auch Kategorien, die einem einfallen, wenn man eine Landkarte vom heutigen Russland (Abb.) betrachtet und an seiner nördlichen Westgrenze die kleine Insel „Oblast Kaliningrad“ entdeckt.
“Kaliningrad – the inhabitants, immigrants are emigrants”
After caring for her two children, the licensed pharmacist, born in Insterburg in 1934, has since 1980 at the latest intensively developed artistic concepts that have enabled a better perception of previously neglected or repressed social, historical or ignored phenomena. The artistic projects appear at specially selected locations that can be characterized from two sides: On the one hand, there are buildings with historical impregnations such as the former synagogue in Rendsburg, the building of the Schleswig-Holstein state parliament, built in 1888 as the Imperial Naval Academy with architectural details from the period between 1930 and 1960, the former NAPOLA school in Plön, the Chinese pavilion in the Pillnitz castle park, a famous tango dance hall in the port of Kotka (Finland) or the municipal theatre in Lübeck. On the other hand, there are rather neutral, almost casual sites such as landings, vestibules or cellar vaults, on or in which Gudrun Wassermann realizes her poetic productions. Historical and personal aspects permeate each work. Mummified cats from Ancient Egypt, sounds of horse racings from New Zealand, German Red Cross search reports in front of a garden cottage in West Berlin, and projections of a sacred bundle of Pawnee Indians indicate the enormously broad spectrum of the field in which the artist has been working with the greatest intensity for thirty years.
Like heaven and earth, distance and proximity are constitutive elements of an artistic method of working that attempts to form a picture of a human experience that lies essentially in the visualization of something that is actually completely incompatible: history as past and remembered as well as present as an alert immediacy.
Distance and proximity are also categories that come to mind when you look at a map of present-day Russia (fig.) and see the small island “Oblast Kaliningrad” discovered at the western edge of the map.
Für Gudrun Wassermann bedeutet die Beschäftigung mit diesem Ort – dem alten und nahezu völlig zerstörten Königsberg und Kaliningrad – eine Durchdringung von Geschichtlichem mit Persönlichem: „Mein Interesse hängt u.a. auch mit der Geschichte meiner Familie zusammen: Im 18. Jahrhundert emigrierten die Salzburger Vorfahren meiner beiden Eltern nach Ostpreußen. Die Erinnerung daran wurde in unserer Familie lebendig gehalten. Wir flohen 1944 von Ostpreußen nach Schlesien und später nach Bayern“ (G.W.). In „Stifter Wald“ von 1984, einer Gemeinschaftsarbeit mit Silke Raab, einer Künstlerin, die auch als Flüchtling nach Schleswig-Holstein kam (übrigens ein westdeutsches Bundesland mit einem enormen Anteil von Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches), taucht das Thema der vergessenen Geschichte gewissermaßen in der Sektion „Nähe“ auf. Sie entdeckten eine, von der Nachkriegszeit und von der Natur wieder ziemlich eingeschlossene ehemalige Betonschleife – gebaut als militärische Anlage, die als LKW-Fahrbahn diente und zu Munitionsbunkern führte. Auf den etwa einen Meter aus dem Boden ragenden Betonflächen der Bunker wurden in der Nachkriegszeit Nissenhütten errichtet als vorläufige Wohnquartiere für die vielen Flüchtlinge. Raab und Wassermann richteten in dem früheren Eislager des ehemaligen Kieler Seefischmarktes, in den 1980er Jahren als Künstlerhaus genutzt, eine Filmprojektion mit einer 86 m langen 16 mm-Filmschleife ein, die sichtbar über Rollen an den Raumwänden entlang geführt wurde. Ergänzt wurde diese Filmprojektion, die als Darstellung dieser Fahrschleife langsam den Verlauf der Fahrbahn im Wald vergegenwärtigte, durch Steinbrocken von der die Betondecke verkleidenden backsteinernen Einfassung des ehemaligen „Wohnhauses“.
Unter der Rubrik „Ferne“ lässt sich das Kaliningrad-Projekt verorten. Bevor ich versuche, dieses für das Jahr 2011 in den großen Ausstellungsräumen des National Centre for Contemporary Arts (NCCA) Kaliningrad, im Obergeschoss der „Kronprinz Barracks“, vorgesehene Projekt zu beschreiben, möchte ich auf einen kunst- und kulturhistorischen Zusammenhang hinweisen, der dieses Projekt mit einem Konzept verbindet, das in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 2002 vorbereitet und geplant (von Volkmar Billig, Ulrich Bischoff, Perdita von Kraft), aber nie realisiert wurde. Unter dem Titel „Who is WhO? Ein Beitrag zur Findung künstlerischer Identität vor dem Hintergrund osteuropäischer Verlusterfahrung“ wurde ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Null (O) von Malewitch und Lissitzky und dem Beginn der Avantgarde in Berlin, Paris, Amsterdam und New York.
Unser Zahlensystem, welches Positionssystem heißt, verwendet schon lange die 0, aber erst im 16. Jahrhundert wird zuerst die 0 nicht als Nichts, sondern als Zahl betrachtet (Cardano, Tartaglia), als Zahlenwirklichkeit. Nur jetzt im 20. Jahrhundert wird das als plastischer Wert, als 0 in dem Komplexkörper der K. anerkannt. Dieses voll-farbige, ganz kontinuierlich mit Farbe ausgestampfte in einer weißen Fläche hat nun angefangen, einen neuen Raum zu bilden.
El Lissitzky, K. und Pangeometrie, in: Europa-Almanach, Potsdam 1925
Die Geschichte Mittel- und Osteuropas im 20. Jahrhundert ist umrahmt von den epochalen Zusammenbrüchen der mitteleuropäischen Dynastien im Ersten Weltkrieg und des sowjetischen Imperiums seit Ende der 1980er Jahre. In ihrer historischen Mitte steht das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Die von daher in die Geschichte jener Region eingetragenen Erfahrungen des Verlusts, der Heterogenität, der Fragwürdigkeit nationaler, kultureller und ideologischer Identifikationen, womöglich von Identität selbst, haben spezifische Bild- und Zeichensprachen geprägt.
Bei der Untersuchung der im Blickpunkt stehenden Bildsprache begegneten wir der symbolischen „0“ und ihrer Herkunft aus der osteuropäischen Avantgarde. Als Signifikant einer verlorenen Mitte und entsprechend „verwundbaren“ Identität bezeichnet diese „0“ zugleich die schöpferische Potenz und den Ereignischarakter von Kunst. Die von der klassischen Moderne Russlands aufgeworfene Denkfigur markiert bis heute einen Grenzpunkt der um die Kunst geführten Debatten. Sie trifft sich schließlich mit jener „0“ des binären Computercodes, die zum herausragenden Zeichen eines Informations- und Medienzeitalters avanciert. Kaum zufällig greifen die Collage- und Montagetechniken postmoderner Medien- und Netzkunstkonzepte explizit auf originäre Technologien der konstruktivistischen und Filmavantgarde zurück.
Die Fragwürdigkeiten eines auf die tradierten Schemata von Ost und West fixierten Kunst- und Avantgardebegriffs nährten die Vermutung, dass der originäre Beitrag der mittel- und osteuropäischen Kunst zur Moderne des 20. Jahrhunderts weniger auf eine geographisch, traditionell oder ideologisch abgegrenzte „östliche“ als auf eine prinzipiell unsichere, instabile und dadurch „verwundbare Identität“ (Piotrowski) gegründet ist.
Unsere These war, dass der Begriff der Moderne in der westeuropäischen und anglo-amerikanischen Kultur überhaupt auf einer Erfahrung gegründet ist, die ihren Schauplatz in Mittel- und Osteuropa hat. Das Ausstellungsprojekt „Who ist WhO. Ein Beitrag zur Findung künstlerischer Identität vor dem Hintergrund osteuropäischer Verlusterfahrung“ wollte dem nachgehen. Phänomenologisch hätte es das Arsenal der künstlerischen Zeichensprache der Moderne untersucht und sich gleichzeitig mit dessen Entstehungsgründen beschäftigt.
Der von Moskau im Osten, dem Dessauer Bauhaus im Westen und dem Weißen und Schwarzen Meer im Norden und Süden unscharf umrissene Kulturraum – in dessen annähernder Mitte das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz liegt – empfiehlt sich als topographisches, der Zeitraum von 1915 bis in die Gegenwart als historisches Bezugssystem der vorgeschlagenen Perspektive.
Vom Medium bildender Kunst ausgehend wäre der Blick auf deren Kontext und entsprechende Reflexionen in angrenzenden Medien (Film, Theater, Literatur, Musik, neue Medien …) erweitert worden.
Zurück zu Gudrun Wassermanns Projekt: Die Beschäftigung mit Kaliningrad bedeutet zugleich auch die Beschäftigung mit der leeren Mitte. Blickt man vom 13. Stockwerk eines Hochhauses auf die alte Pregelinsel, dann ragen drei Bauwerke im Zentrum hervor: an dem Standort des alten Königsberger Schlosses (nördlich der Insel) erhebt sich heute das neu angestrichene, aber nie bezogene „Haus der Räte“ (Dom Sowjetow). In der Mitte, im Herzen der Insel steht der wieder aufgebaute Dom aus Ziegelsteinen, auf dem südlichen Ufer des Pregels erkennt man das flach gelagerte Gebäude der alten Börse. Umgeben ist das alte Herz der Stadt, seine Mitte mit ursprünglich innerstädtischer, historisch enger Bebauung, von einem Riegel mehrstöckiger Wohnblocks, Plattenbauten, in denen die Mehrzahl der Bewohner der heutigen Halbmillionenstadt ihre Wohnungen haben.
Damit ist der Schauplatz benannt, auf dem die Recherche nach den heutigen Bewohnern stattfindet. Gudrun Wassermann nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand von außen nach innen. Die Stills aus der City Kaliningrad beginnen jedoch wieder mit der Nahsicht. Der Blick auf den Boden zeigt das Pflaster, auf dem zwei Geschöpfe Platz gefunden haben: ein kleiner Hund mit weißbraunem Fell, der auf den Granitplatten steht und ängstlich fragend den abwesenden Fotografen anschaut, sowie eine arg zerzauste Taube, die in den Fugen zwischen den Platten nach Essbarem Ausschau hält. Es folgen Bilder von großen Mietshäusern.
For Gudrun Wassermann, the occupation with this place – the old and almost completely destroyed Königsberg and Kaliningrad – means an interpenetration of the historical with the personal: “Among other things, my interest is also connected with the history of my family: In the 18th century my parents’ ancestors from Salzburg emigrated to East Prussia. The memory of this was kept alive in our family. In 1944 we fled from East Prussia to Silesia and later to Bavaria.” (G.W.) In “Stifter Wald” from 1984 – a collaborative work with Silke Raab, an artist who also came to Schleswig-Holstein as a refugee (incidentally a West German state with an enormous proportion of refugees from the former eastern territories of the German Reich) – the theme of forgotten history appears in the “Closeness” section, so to speak. They discovered a former concrete loop that had been rather enclosed by the post-war period and by nature – built as a military facility, which served as a truck roadway and led to ammunition bunkers. In the post-war period, Nissen huts were erected on the concrete surfaces of the bunkers, which protrude about one meter out of the ground, as temporary living quarters for the many refugees. Raab and Wassermann set up a film projection in the former ice warehouse of the sea fish market of Kiel, which was used as an artists’ house in the 1980s – a projection with an 86 m long 16 mm film loop that was visibly guided along the walls via rollers. This film projection, which as a representation of this loop slowly visualized the course of the forest’s roadway, was supplemented by pieces of stone from the brick enclosure of the former “residential house” which covered the concrete ceiling.
The Kaliningrad project can be found under the heading “Distant”. Before I try to describe this project – which is planned for 2011 in the large exhibition rooms of the National Centre for Contemporary Arts (NCCA) Kaliningrad, on the upper floor of the “Crown Prince Barracks” -, I would like to point out an art and cultural-historical context that connects this project with a concept that was prepared and planned at the Staatliche Kunstsammlungen Dresden in 2002 (by Volkmar Billig, Ulrich Bischoff, Perdita von Kraft) but never realized. Under the title “Who is Wh0? A Contribution to the Finding of Artistic Identity against the Background of Eastern European Loss Experience”, a connection was established between the zero (0) of Malevich and Lissitzky and the beginning of the avant-garde in Berlin, Paris, Amsterdam and New York.
Our number system, which is called position system, has been using the 0 for a long time, but it is only in the 16th century that the 0 is first considered not as nothing but as a number (Cardano, Tartaglia), as a numerical reality. Only now in the 20th century is this recognized as a plastic value, as 0 in the complex body of K. This full-coloured, continuously stamped with colour in a white surface has now begun to form a new space.
El Lissitzky, K. and Pangeometrie, in: Europa-Almanach, Potsdam 1925
The history of Central and Eastern Europe in the 20th century is framed by the epochal collapse of the Central European dynasties in World War I and of the Soviet Empire since the end of the 1980s. At its historical centre lies the experience of the Second World War and the Holocaust. The experiences of loss, heterogeneity, and the questionability of national, cultural, and ideological identifications, possibly of identity itself, which are thus recorded in the history of that region, have shaped specific visual and sign language.
In examining the visual language in question, we encountered the symbolic “0” and its origin in the Eastern European avant-garde. As the significant of a lost centre and a correspondingly “vulnerable” identity, this “0” denotes both the creative power and the event-like character of art. The figure of thought raised by Russia’s classical modernism still marks a border point in the debates about art today. It finally meets the “0” of the binary computer code, which is becoming the outstanding sign of an information and media age. It is hardly coincidental that the collage and montage techniques of postmodern media and net art concepts explicitly go back to original technologies of the constructivist and film avant-garde.
The questionable nature of a concept of art and avant-garde fixed on the traditional schemata of East and West nourished the assumption that the original contribution of Central and Eastern European art to the modernity of the 20th century was based less on a geographically, traditionally or ideologically defined “Eastern” identity than on a fundamentally uncertain, unstable and thus “vulnerable identity” (Piotrowski).
Our thesis was that the concept of modernity in Western European and Anglo-American culture in general is based on an experience that has its arena in Central and Eastern Europe. The exhibition project “Who is Wh0. A Contribution to the Finding of Artistic Identity against the Background of Eastern European Lost Experience” wanted to pursue this question. Phenomenologically, it would have examined the arsenal of artistic sign language of modernism and at the same time dealt with the reasons for its creation.
The cultural area, vaguely outlined by Moscow in the east, the Dessau Bauhaus in the west, and the White and Black Sea in the north and south – with the concentration and extermination camp Auschwitz in its approximate centre – is recommended as a topographical, the period from 1915 to the present as a historical reference system for the proposed perspective.
Starting from the medium of visual art, a look at its context and corresponding reflections in adjacent media (film, theatre, literature, music, new Media …) has been expanded.
Back to Gudrun Wassermann’s project: Dealing with Kaliningrad also means dealing with the empty middle. If one looks from the 13th floor of a high-rise building at the old Pregel Island, three buildings in the centre stick out: on the site of the old Königsberg Castle (north of the island), the newly painted but never occupied “House of Councillors” (Dom Sowjetow) rises today. In the centre, in the heart of the island, stands the rebuilt brick cathedral, on the southern bank of the Pregel you can see the flat building of the old stock exchange. In the old heart of the city, its former famous centre with historically narrow buildings, it now surrounds a block of multi-storey apartment blocks, prefabricated concrete slab buildings, in which the majority of the inhabitants of today’s city of half a million residents have their apartments.
This is the scene where the research for today’s inhabitants takes place. Gudrun Wassermann approaches her object of explorations from the outside to the inside. The stills from the city of Kaliningrad, however, start again with the close-up view. The view on the floor shows the pavement on which two creatures have found a place: a small dog with white-brown fur standing on the granite slabs and looking anxiously and questioningly at the absent photographer, and a badly tousled dove looking for food in the gaps between the slabs. Pictures of large apartment buildings are following.
Um die Unübersichtlichkeit zu mildern, wurden die Hauseingänge mit hell leuchtender blauer Farbe markiert. Schließlich ergänzen diese Bilder von der architektonischen Ortsbesichtigung bewegte Szenen, die vom Kommen und Gehen im verkehrsreichen Zentrum Zeugnis geben: ein Weg, ein Trampelpfad neben den angrenzenden Wohnblöcken berichtet vom Alltag. Eine Frau mit einem Kind an der Hand begegnet einem Mann, der ihr entgegenkommt. In Regenpfützen spiegelt das stehen gebliebene Wasser den fahl blauen Himmel, der Mann nimmt die Form einer dem „Schreitenden“ von Giacometti vergleichbaren Figur an. Der Autoverkehr rollt über breite Verkehrsadern, behutsam manövriert von Verkehrshelfern mit Schutzwesten. Und dann treten plötzlich die Einwohner dieser Stadt mit deutlicher Individualität ins Blickfeld: Junge Leute mit modischer Kleidung und entschlossen gelassener Selbstverständlichkeit ordnen sich zu Gruppen am Straßenrand. Sie warten auf Busse und Straßenbahnen oder an der Ampel an einem Fußgängerübergang.
Der vielleicht wichtigste Teil dieser künstlerisch motivierten, auf Bestandssichtung ausgerichteten Feldforschung sind die Einzelporträts von elf Personen aus drei Generationen.
Auffällig ist, dass die Standfotos aus diesen Aufzeichnungen Personen zur Anschauung bringen, die der Interviewerin offen und mit großem Selbstbewusstsein begegnen. Es ging in diesen Gesprächen mit den Einwohnern um Fragen nach Herkunft: aus welchen Teilen Russlands die Familien, oder – bei den Älteren sie selbst – stammen, welche Rolle das Thema der Migration heute noch spielt, wie die Lebensbedingungen sind und wo die Verbindung zwischen Königsberg und Kaliningrad zu finden ist. Eine die Interviewerin überraschende Antwort war, dass die Herkunft kaum eine Rolle spielt: „Alle hier Lebenden und Zuwandernden sind Russen, alle Russen verbindet gleiche Sprache und Kultur“.
Ein durchgehendes Merkmal in den Arbeiten der letzten 30 Jahre bei Gudrun Wassermann ist ein behutsamer Annäherungsprozess an das „Thema“ ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Ausdruck dieser Herangehensweise ist die langsame, allmähliche Bewegung. Deutlich wird sie im Begriffspaar von Erscheinen und Verschwinden. So wird gewissermaßen das sorgfältig edierte Material der Videoaufzeichnungen im Medium des projizierten Films vorgeführt in einem Raum des NCCA Kaliningrad, der als Kino eingerichtet ist. Der Raum ist in leicht getöntes Dämmerlicht getaucht, der Film wird nicht – wie üblich – im vollständigen Dunkel gezeigt.
In einem zweiten Raum projizieren Beamer die für diese Installation geschnittenen Filme zeitversetzt auf eine Übertragungsinstallation, „die aus sternförmig auf dem Boden angeordneten Glasscheiben besteht. Auf diese Weise werden die Bilder rundum an die Raumwände gespiegelt. Die Besucher der Installation werden zu aktiven Teilnehmern. Ihre Schatten mischen sich mit den Filmbildern an den Wänden, gleichzeitig werden die Umhergehenden zur wandelnden Projektionsfläche. Für jeden Betrachter entsteht ein anderer Film“ (G.W.). Dadurch, dass die Reflektionsflächen keine Spiegel, sondern transparente Glasflächen sind, entstehen Bilder, die nicht die Härte einer unbedingt eindeutigen Aussage haben. Vielmehr zeigen die von den Glasscheiben wiedergegebenen Filme Erscheinungen, die die Milde einer ungefähren Gestalt haben.
Gudrun Wassermann vertraut dem Anschein des Gewöhnlichen. Die Wahrheit ist im Alltag verborgen. Man braucht keine vom Willen und der Intention eines diktatorischen künstlerischen Individuums festgelegte und vorgegebene Gestalt. Gudrun Wassermann gewinnt die Form der von ihr gewünschten Erscheinung aus vorhandenen Strukturen, Überlagerungen und verborgenen Schichten. Ihre künstlerische Arbeit besteht darin, diesen Alltag selber sprechen zu lassen, ohne ihn zu bewerten durch Ordnung, Perspektive und Ausdruck. In der Installation gerät der Betrachter selbst zum Bilderzeuger, indem er mit dem Geschehen im wörtlichen Sinne in Berührung kommt. Die Würde der Bewohner in „Einwanderer sind Auswanderer“ kommt dadurch zustande, dass die Autorin ganz hinter ihrem Gegenstand zurücktritt und den im Film erscheinenden Menschen allein den Auftritt ermöglicht.
Die leere Mitte in Kaliningrad ist entweder von der Natur überwuchert oder mit einem Betondeckel verschlossen. Sehr lange war damit die Geschichte von Königsberg auch verschlossen. Diese feste Plattform ist gleichzeitig Fundament für neues Leben und Schutzdeckel gegen die Vergangenheit. Indem der Blick der Autorin jedoch auf den Boden fällt und in die Gesichter der Einwohner, gibt die Leerstelle Anzeichen von Veränderung preis. Unter dem Pflaster ist nicht nur der Sand, sondern auch das Blut, das hier vergossen wurde. Die zerbrochenen Fußwegplatten werden zum Symbol einer sich öffnenden Geschichte. In dieser Leere haben sich Inseln des Lebens etabliert, die ihren schönsten Ausdruck in den Gesichtern der Befragten haben. Die ungerichtete Aufmerksamkeit als kostbares Instrument der recherchierenden Künstlerin mit ihrer Bereitschaft genau hinzuhören, hat dazu beigetragen, dass bewegte Bilder von Menschen entstehen konnten, die frei sind, nach diesen schrecklichen Erfahrungen, neu zu beginnen und „zwischenmenschliche Fäden zu spinnen und für diese Verbindungen die Verantwortung zu übernehmen“ (Vilém Flusser).
Ulrich Bischoff, Dresden, 2010,
geschrieben für das Werkverzeichnis Gudrun Wassermann
To reduce the confusion, the entrances to the building had been marked with bright blue paint. Finally, these pictures of the architectural site visit complement moving scenes that bear witness to the comings and goings in the busy city centre: a path, a footpath next to the adjacent blocks of flats tells of everyday life. A woman with a child by the hand meets a man who comes along. In puddles of rain the stagnant water reflects the pale blue sky, the man takes on the form of a figure comparable to Giacometti’s „Striding Man“. Car traffic rolls over wide traffic arteries, carefully manoeuvred by assistants wearing protective vests. And then suddenly the inhabitants of this city come into view with clear individuality: young people with fashionable clothing and resolutely relaxed self-evidence arrange themselves into groups at the roadside. They wait for buses and trams or at the traffic lights at a pedestrian crossing.
Perhaps the most important part of this artistically motivated field research, which is geared towards a survey of the existing situation, are the individual portraits of eleven people from three different generations. It is striking that the still photographs from these recordings bring to mind that people meet the interviewer openly and with great self-confidence. These conversations with the inhabitants were concerned with questions of origin: from which parts of Russia the families, or – in the case of the older ones – themselves come, what role the topic of migration still plays today, what the living conditions are like and where the connection between Königsberg and Kaliningrad can be found. One answer the interviewer found surprising was that origin hardly plays a role at all: “All those living here and immigrants are Russians, all Russians share the same language and culture”.
A consistent feature of Gudrun Wassermann’s work over the past 30 years is a careful process of approaching the “theme” of her artistic exploration. An expression of this approach is the slow, gradual movement. It becomes clear in the pair of concepts of appearance and disappearance. In a sense, the carefully edited material of the video recordings is presented in the medium of the projected film in a room of the NCCA Kaliningrad, which is set up as a cinema. The room is bathed in slightly tinted twilight, the film is not – as usual – shown in complete darkness.
In a second room, beamers project the films edited for this installation with a time delay onto a transmission installation, “which consists of glass panes arranged in a star shape on the floor. In this way, the images are mirrored all around the walls of the room. The visitors of the installation become active participants. Their shadows mix with the film images on the walls, while at the same time those walking around become a changing projection surface. A different film is created for each viewer.” (G.W.) The fact that the reflection surfaces are not mirrors but transparent glass surfaces creates images that do not have the hardness of an absolutely unambiguous statement. Rather, the films reproduced by the glass panes show phenomena that have the mildness of an approximate shape.
Gudrun Wassermann trusts the appearance of the ordinary. The truth is hidden in everyday life. One does not need a form that is fixed and predetermined by the will and intention of a dictatorial artistic individual. Gudrun Wassermann gains the form of the appearance she wants from existing structures, superimpositions and hidden layers. Her artistic work consists in letting this everyday life speak for itself without evaluating it through order, perspective and expression. In the installation, the viewer himself becomes the picture maker by coming into contact with the events in the literal sense.The dignity of the inhabitants in “Immigrants are emigrants” is achieved by the fact that the author withdraws completely behind her subject and allows the people appearing in the film to perform alone.
The empty center in Kaliningrad is either overgrown by nature or closed with a concrete cover. For a very long time, the history of Königsberg was thus also closed off. This solid platform is both the foundation for new life and a protective cover against the past. However, as the author’s gaze falls on the ground and into the faces of the inhabitants, the empty space reveals signs of change. Under the pavement there is not only the sand, but also the blood that was spilled here. The broken footpath slabs become the symbol of an unfolding story. Islands of life have established in this emptiness, which have their most beautiful expression in the faces of the questioned. The undirected attention as a precious instrument of the researching artist – with her willingness to listen carefully – has contributed to the creation of moving images of individuals who are free to start anew after these terrible experiences and “to spin interpersonal threads and take responsibility for these connections” (Vilém Flusser).
Ulrich Bischoff, Dresden 2010,
written for the catalogue raisonné of the works of Gudrun Wassermann